Don’t be evil, but Software is eating the World and the Singularity is near
„Das Gemisch aus Geist und Geld zündet immer da, wo kreative Köpfe zusammenkommen.“
Was macht das System ‚Silicon Valley‘ aus und was muss im Land der Dichter und Denker angepackt werden, um zu den Gewinnern der Digitalen Transformation zu gehören? Und: warum sollte man Exponentialfunktionen verstehen?
Keese hat mit 3 anderen Kollegen von Axel Springer im Jahr 2013 sechs Monate im Silicon Valley verbracht – primär, um Ideen für die Zukunft des Verlagsgeschäfts zu finden. Er ist der Kultur und den Rahmenbedingungen auf der Spur, die es ermöglichten, dass in den letzten 20 Jahren alle wichtigen Technologie-Trends aus einem unscheinbaren Gebiet im Süden von San Francisco getrieben wurden. Was muss in Deutschland passieren, dass wir bei der Digitalisierung nicht völlig Unternehmen wie Google, Apple oder Facebook ausgeliefert sind? Entscheidend für den Erfolg des Silicon Valleys ist, dass die Wege von Talent und Kapital sich permanent kreuzen und eine Form der Symbiose gefunden haben: Räumliche Nähe, Offenheit und Geschwindigkeit sind die Erfolgsfaktoren; Geld ist im Überfluss vorhanden – jährlich stehen etwa 15 Milliarden $ Wagniskapital zur Verfügung – Investoren bringen zusätzlich ihr Netzwerk und persönliches Engagement ein. Der Brutreaktor des Silicon Valleys ist die Stanford University, die ehemalige Provinzuniversität verfügt über ein jährliches Budget von über 5 Milliarden $ – mehr als eine Milliarde davon werden durch Spenden beigesteuert. 15.000 Studenten stehen 2.000 Professoren und noch mal 13.000 Mitarbeitern gegenüber; Weltfirmen wie Hewlett-Packard (die 2 aus der Garage), Yahoo!, Google, Cisco, Sun, eBay, Netflix, Silicon Graphics oder LinkedIn haben hier ihren Ausgangspunkt. Alleine durch den Verkauf der Anteile an Google (gegründet 1998, Börsengang 2004) hat Stanford mehr als 360 Millionen $ verdient. Stanford fördert die unternehmerische Kreativität durch großzügig ausgestattete studentische Clubs zu allen erdenklichen Themen – mehr als 650 sind registriert. Kehrseite des Erfolgs der High-Tech-Firmen ist die soziale Kluft, die sich auftut: die Kaufkraft der IT-Unternehmer und -Angestellten bringt das soziale Gefüge so durcheinander, dass normale Arbeiter sich Wohnen und Leben in San Francisco und Umgebung kaum mehr leisten können.
Disruptive Innovation
‚Disruptive Innovation‘ ist die Zauberformel des Silicon Valleys, Christensens „The Innovator’s Dilemma“, ein Wirtschaftsbuch aus dem Jahr 1997, eine der Bibeln: Etablierte Unternehmen gehen unter, weil sie ihre Kunden mit dem beliefern, was diese heute brauchen, und damit den disruptiven Angriff auf ihren Markt verpassen, statt sich selbst an die Spitze der Zerstörung zu setzen: „Die meisten Organisationen beschleunigen den Entwicklungsprozess weit über die Bedürfnisse ihrer Kunden hinaus und erfinden Produkte, die zu teuer und zu kompliziert für viele Kunden auf ihren Märkten sind“. Christensen gibt dringende Disruptionswarnung für fast alle Branchen. Im Silicon Valley wird eine Kultur jenseits der ausgefeilten Pflichtenhefte gepflegt: Produkte entstehen in agilen Sprints und Zyklen in enger Abstimmung mit den Nutzern; ein gutes Produkt ist die Reduktion, die Essenz einer Idee. Das „Minimal Viable Product“ ist der Götze und Kreativität bedeutet, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Kleine, schmale Produkte schaffen die Versuchsanordnung, Annahmen mit Kunden zu validieren und machen das Silicon Valley schnell, treffsicher und innovativ.
Inkubatoren, Accelerators und Investoren
Um die Startups herum ist ein Netzwerk von Inkubatoren und Accelerators entstanden, die vielversprechende Gründer meist gegen Anteile coachen und auf Geschwindigkeit bringen. Zudem wollen 15 Milliarden $ Wagniskapital jährlich verteilt sein, die Sandy Hill Road ist die bevorzugte Adresse aller Venture Capital Fonds. Da die Investoren damit kalkulieren, dass 9 von 10 Startups floppen, investieren sie nur in Geschäftsideen mit einer Aussicht auf mindestens 10 Milliarden $ Bewertung. Dieser „Shooting for the Moon“ – Ansatz hat tatsächlich funktioniert bei Firmen wie Airbnb, DropBox, Uber, Palantir, WhatsApp, da ihre Ideen teilweise mit dem 50-fachen des Umsatzes bewertet sind – oder obwohl kaum Umsätze zu verzeichnen sind. Grundlage dieser Mond-Bewertungen sind skalierbare Geschäftsmodelle (hier noch mal Exponentialfunktionen nachschlagen), bei denen die Unternehmen nur minimale Kosten pro neuen Kunden haben und Millionen von Kunden mit einer zweistelligen Mitarbeiterzahl bedient werden. Die Finanzierungen laufen über etablierte Runden (Bootstrapping, Seed bis Series A, B, C, D), in deren Folge die Gründer sukzessive Anteile abgeben, bis das Unternehmen dann an die Börse geht (wie Twitter) oder an ein anderes Unternehmen verkauft wird. Allerdings lösen seit geraumer Zeit die Mehrzahl der Fonds ihre Renditeversprechungen nicht mehr ein, d.h. die Investoren verdienen kaum noch Geld.
Digitale Plattformen, Netzwerkeffekt und die digitale Welt der Arbeit
Viele der Geschäftsideen basieren auf dem Ansatz der Digitalen Plattformen, die sich als Broker in etablierte Beziehungen zwischen Kunde und Unternehmen drängen. Für Kunden hat es viele Vorteile, an jeweils einer, statt vielen verschiedenen Stellen Hotels oder Ferienwohnungen zu buchen, Kredite zu beantragen oder Musik zu hören. Zentrale Plattformen gewinnen so eine unglaubliche Marktmacht und dazu noch wertvolle Informationen über Kunden und ihr Nutzungsverhalten. Wo heute noch ein Navigationssystem als sekundäres Add-On in einem Auto gesehen wird, kann schon in kurzer Zeit das Know-how zu Motoren, Getrieben und Bremsen völlig nebensächlich werden in einem vernetzten, selbst fahrenden Transportsystem, das den Menschen auf Basis intelligenter Algorithmen zu seinen Kontakten und Einkaufsmöglichkeiten bringt. Der Anteil von Information an der Wertschöpfung wird dramatisch zunehmen. Schon heute trauen Konsumenten eher Google und Apple als BMW und Daimler zu, selbstfahrende Autos zu bauen. Viele Branchen sind in akuter Lebensgefahr: eine Branche, die ihren Kunden eine 22-stellige IBAN-Nummer oder 15 Prozent Überziehungszinsen zumutet, ist für disruptive Angriffe prädestiniert. Da bei fast allen Plattform-Ansätzen die Vorteile der Kunden umso größer werden, je mehr Teilnehmer die Plattform hat, führt die Digitalisierung an dieser Stelle leicht zu einer Monopolbildung. Wo dieser Netzwerkeffekt wirkt, besteht die Gefahr, dass der Wettbewerb ausstirbt und der Monopolist seine Stellung ausnutzt. Diskutiert wird eifrig, wie lange die Lebensdauer von Monopolen im Internet ist; wie hoch sind die Markteintrittsbarrieren für neue Wettbewerber mit neuen disruptiven Ansätzen, die die bisherigen Marktführer vom Thron stoßen können? Googles Produkte sind in der Regel für den Kunden kostenlos, weil Google so schnell Marktdurchdringung und Reichweite steigert und dadurch mit Werbung weit mehr verdient, als wenn sie Gebühren für ihre Dienste verlangen würden. Netzmonopole z.B. bei der Internetsuche werden darüber hinaus eingesetzt, um benachbarte Märkte (z.B. Musikvideos via YouTube) zu erobern. „Don’t be evil“ liest sich gut, aber wenn man bedenkt, dass Google fast keine Steuern in Deutschland zahlt und seinen Einfluss generalstabsmäßig ausbaut, kann man ins Grübeln geraten: Kartendienste, die jede Fahrt im Auto in Echtzeit analysieren und speichern, Gesichtserkennung, Smart Home, Drohnen, Foto-Satelliten mit gigantischer Auflösung, selbstfahrende Autos bis hin zu Robotern – alles aus einer Hand und vernetzt; haben wir noch die Chance, dem Google-Reich was entgegenzustellen? Wird es in Zukunft noch feste Arbeitsverhältnisse geben oder sind wir alle digitale Nomaden – vermittelt über digitale Plattformen? Der virtuelle, ortsunabhängige Anteil der Arbeit wird zunehmen. Unser Marktwert wird von cleveren Algorithmen in Echtzeit ermittelt werden – permanentes Scoring wird allgegenwärtig sein. Das Internet-of-Things (IoT) wird die Warenströme und die Bereitstellung der notwendigen Arbeitskräfte noch weiter automatisieren. Die heutige Lohnspreizung zwischen High Cost und Low Cost – Ländern wird sich dramatisch verringern.
The Singularity is near
Noch weiter gehen die Visionen von Internet-Guru (und Google-Manager) Ray Kurzweil („The Singularity is near“): Singularität meint den Zeitpunkt in nicht allzu ferner Zukunft, zu dem die Intelligenz der Maschinen menschlicher Intelligenz so weit überlegen ist, dass sie selbst Maschinen bauen und der menschliche Geist von den jetzigen Gehirnen extrahiert in die Cloud hochgeladen wird. Google ist einer der Hauptsponsoren der Singularity University und hat sich zum Ziel gesetzt, Singularity Wirklichkeit werden zu lassen: „Die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts wird von 3 überlappenden Revolutionen gekennzeichnet sein: Genetik, Nanotechnologie und Robotik“ – GNR. Andere glauben, dass neue (Krypto-)Währungssysteme à la Bitcoin die nächste Revolution ausmachen werden.
Keese ist mittlerweile zurück in Deutschland und es bleibt die Frage, was Deutschland tun kann, um den Herausforderungen zu begegnen. Brauchen unsere Kinder neue Qualifikationen, ist Programmieren eine Basiskompetenz wie Lesen und Schreiben? (Auf dem IT-Gipfel im November 2016 in Saarbrücken wurde der Kleinstrechner Calliope vorgestellt, der im Saarland allen Drittklässlern Programmierkompetenz vermitteln soll – Heureka). Keese lenkt den Blick auf die Lehrpläne und Strukturen von deutschen Schulen und Universitäten und ist sich sicher: „Im üblich behäbigen Tempo wird der deutsche Lehrbetrieb auf diese Anforderungen nicht reagieren können.“ Wenn sich die Ballungsräume der Zukunft tatsächlich um Forschungseinrichtungen, nicht um Häfen und Autobahnknoten formen, dann ist geistige Beweglichkeit das Öl der Zukunft. Unternehmen müssen sich in agile Organisationen transformieren: eine Gründerkultur mit Wagniskapital statt ausgelatschter Berichtswege ist gefragt. Das Land der Ideen muss eine Kultur des positiven Denkens und Ausprobierens etablieren. Großes entsteht immer im Kleinen.
Originalität | Erkenntnis | ||
Verständlichkeit | Spaßfaktor |
Christoph Keese: Silicon Valley – Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt. Albrecht Knaus Verlag, 2014, 320 Seiten. |