„There’s someone in my head, but it is not me.“ (Pink Floyd)
Wenn man versteht, dass die meisten der lebensnotwendigen Programme des Menschen ohne Kontrolle des Bewusstseins ablaufen, führt dies schnell zu der Frage, was tatsächlich „willentlich“ geschieht. Ist unser „Ich“ gar nicht Regisseur der komplexen Abläufe hinter den Kulissen, sondern eher Zuschauer?
Eagleman zerrt den Leser runter vom Thron und macht klar, dass das Bewusstsein, das im Laufe der Evolution entstanden ist, nur einen winzigen Teil davon mitbekommt, was im Körper und im Gehirn tatsächlich vor sich geht. Dass man nicht über alle Einzelheiten der Atmung, Verdauung oder des Blutkreislaufs informiert werden oder nachdenken möchte, liegt auf der Hand, aber es ist doch erstaunlich, dass auch höchst kreative Tätigkeiten (wie die Entdeckung mathematischer Gesetze oder das Schreiben eines Romans) nahezu ohne bewusste Einflussnahme geschehen können – wie die Beispiele von Maxwell oder Goethe nahelegen.
Da das Gehirn als wabblige Masse im Schädel verborgen liegt, ist es offensichtlich, dass wir die Außenwelt nicht direkt wahrnehmen, sondern über Signale des Nervensystems. Alleine schon anhand optischer Täuschungen erkennt man, dass Sehen ein Konstrukt des Gehirns und Bewusstsein eine Art stark vereinfachte Projektion der Aktivitäten des Nervensystems (wie die Schlagzeilen einer Zeitung) sind. Sehr erstaunen erfolgreiche Versuche, einen Sinn gegen einen anderen auszutauschen: z.B. lernen Blinde nach einiger Zeit, die von einer Videokamera produzierten und in Tastsignale transformierten Signale als „Sehen“ zu interpretieren – d.h. dem Gehirn ist es egal, ob die elektrischen Impulse von den Augen, Ohren oder sonst woher kommen; solange sie mit unseren Bewegungen in Einklang stehen, konstruiert das Gehirn eine Wahrnehmung, die wir als Sehen bezeichnen. Bedeutet dies, dass man zukünftig in das Gehirn auch andere Signale (Infrarot-, Wetter- oder Aktieninformationen) einspeisen kann und wir diese nach einem Lernvorgang „verstehen“? Auch bei höheren Funktionen wie Denken, Fühlen, Glauben wird unsere Wahrnehmung von Teilen des Gehirns erzeugt – viele Beispielen wie Partnerwahl oder Rassismus zeigen, dass das unbewusste Gehirn Entscheidungen maßgeblich beeinflusst.
In der Summe erklärt sich das menschliche Verhalten (halbwegs) aus der Zusammenarbeit paralleler Systeme: schnell/automatisch/unbewusst versus langsam/kognitiv/bewusst. Überall treten überlappende Systeme zueinander in Konkurrenz, was sich als relativ robust auch bei Ausfall einer Komponente erweist. Je routinierter und automatisierter man Aufgaben erledigt, umso weniger muss das Bewusstsein eingreifen – nützliche Abläufe werden in die Schaltkreise des Gehirns „eingebrannt“. Je größer die Zahl der automatisierten Unterprogramme, umso wichtiger wird das Bewusstsein, um flexibel reagieren zu können. Vor diesem Hintergrund diskutiert Eagleman ausführlich die Frage der Willensfreiheit: Wenn der freie Wille nicht mehr als ein kleiner Aufsatz auf einem komplex automatisierten Apparat ist, dann tritt die Frage der Schuld in den Hintergrund; vielmehr sollten seiner Meinung nach z.B. Strafen nach dem Rückfallrisiko bemessen werden. Trotz aller Erkenntnis bleibt aber noch die entscheidende Frage nach der Seele, die unabhängig von der Biologie des Körpers existiert. Oder sind wir nur komplexe biologische Apparate, die auf mechanische Weise alle Gefühle, Hoffnungen und Träume erzeugen? Eaglemans Antwort ist klar: alles beruht auf biologischen Elementen, aber die Zusammenhänge zwischen Genen, Molekülen, Umwelt und Verhaltensweisen sind so komplex, dass wir sie nicht in absehbarer Zeit vollständig ergründen werden – das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile (Emergenz).
Originalität
Erkenntnisgewinn
Verständlichkeit
Spaßfaktor
David Eagleman:
Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns.
Pantheon Verlag. München 2012, 330 Seiten.