Freitag, Oktober 11, 2024
Science

Kopfnüsse jenseits des großen 1×1

„Was macht ein großes mathematisches Problem groß? Intellektuelle Tiefe in Kombination mit Einfachheit und Eleganz. Und es muss wirklich schwierig zu knacken sein.“

Gibt’s in der Mathematik wirklich noch neue Erkenntnisse und wie lösen Mathematiker Probleme? Stewart beleuchtet kenntnisreich, was sich in den letzten 100 Jahre getan hat, und insbesondere auch welche Fragen noch auf Klärung warten.

Wenn Sie sich für Mathematik auch jenseits von Dreisatz und Kurvendiskussion interessieren, aber keine Lust, Zeit (und Kompetenz) haben, auf Oberseminar-Niveau Themen zu durchdringen, dann bietet Stewarts Buch den richtigen Überblick: die wichtigsten und kniffligsten Fragen der Mathematik werden so beschrieben, dass man auch als interessierter Laie (halbwegs) versteht, worum es geht und wie die besten Mathematiker sich in den letzten Jahrzehnten mühten, diese Probleme zu lösen. Nicht immer mit Erfolg: bei vielen der Fragen ist man vorangekommen, aber die endgültige Antwort steht oftmals noch aus.

Immer wieder Primzahlen
Primzahlen (die eine große Bedeutung in der Verschlüsselung haben) bleiben ein dankbares Objekt der Begierde: jeder Hobby-Mathematiker kann leicht beweisen, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, aber effiziente Tests, ob eine Zahl prim ist (der kleine Fermat’sche Satz liefert nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung dafür) bleiben eine Herausforderung: 1983 wurde ein schneller Algorithmus beschrieben und zur Laufzeit n log(log(n)) verbessert, aber erst 2003 wurde der erste Algorithmus mit polynomialer Laufzeit gefunden (n12 – mittlerweile verbessert auf n6). Aber es gibt immer noch keinen effizienten Algorithmus, der eine Zahl in ihre Primfaktoren zerlegt. Legendär sind die „Goldbach-Hypothesen“ (stammend aus einem Brief von Christian Goldbach an Leonard Euler aus dem Jahr 1742): „Jede gerade Zahl größer als 2 ist die Summe zweier Primzahlen. Jede ungerade Zahl größer als 5 ist die Summe dreier Primzahlen.“ Diese Behauptungen kann man für kleine Zahlen leicht überprüfen; der Beweis lässt aber seit mehr als 250 Jahren auf sich warten, auch wenn viele Teilergebnisse auf dem Weg zum Ziel erbracht wurden. Weiterhin gibt es hunderte offene Fragen im Zusammenhang mit Primzahlen (z.B. die Frage, wie viele Primzahlen es bis  zu einer Obergrenze z gibt, bei der auch Riemann mit der nach ihm benannten Hypothese mitmischt).

Geometrie trifft Algebra
Natürlich lernen wir auch den genialen Zahlentheoretiker Carl Friedrich Gauß kennen und sehen, wie mit Hilfe der Algebra geometrische Probleme gelöst wurden (z.B. der Beweis der Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises). Das 4-Farben-Problem (Reichen maximal 4 Farben aus, um eine Karte so einzufärben, dass benachbarte Regionen unterschiedliche Farben haben?) ist ein Beispiel dafür, dass sich viele Experten an einem Beweis versuchten, letztendlich aber ein Computer zur Beweisführung benötigt wurde – was für Verdruss sorgte. Schaut man sich die weiteren Fragestellungen an (z.B. Wie stapelt man Kugeln möglichst dicht? Wie beschreibt man mathematisch Strömungsverhalten? Welche Untergrenze hat die Masse von Elementarteilchen? Welche ganzen Zahlen sind als Flächeninhalte eines rechtwinkligen Dreiecks möglich, dessen Seitenlängen rationalen Zahlen sind (kongruenten Zahlen)?) wird klar, dass die Lektüre nicht unbedingt als leichte Unterhaltung vor dem Nachtschlaf dient, sondern Konzentration und Beharrlichkeit erfordert. Bei manchen Themen wird auch dies nicht ausreichen – hier die Hodge-Vermutung (formuliert 1950 vom schottischen Geologen William Hodge): „Auf jeder nicht singulären projektiven komplexen algebraischen Varietät ist jede Hodge-Klasse eine rationale Linearkombination von Klassen algebraischer Zykel“ – willkommen im Oberseminar. Belohnt wird man dagegen mit Einblicken in die Beweisführung des berühmten letzten Satzes Fermats (xn + yn = zn hat für n > 2 keine ganzzahlige Lösung), der erst 1995 bewiesen wurde – mehr als 3 Jahrhunderte nachdem er in die Welt gesetzt wurde.

Was kann man effizient berechnen?
Für alle Computerwissenschaftler ist die Frage der Effizienz (Komplexität) von Algorithmen weiterhin spannend: Sortieren (von n Zahlen oder ähnlichem) ist eine relativ einfache Aufgabe – wenn man sich naiv dranstellt, braucht man n2 Schritte, bei cleveren Verfahren ist auch n x (log n) möglich. Andere Aufgaben sind deutlich aufwendiger, z.B. das Auffinden der kürzesten Route zwischen n Städten (Travelling Salesman Problem) kostet n! Schritte, wenn man jede Möglichkeit der Reihenfolge durchprobiert, d.h. die Laufzeit dieses Verfahrens wächst schneller als „exponentiell mit n“ – was bedeutet, dass dies für große Zahlen n nicht effizient berechnet werden kann. Der Rekord in der Berechnung statt aus dem Jahr 2006 mit der Berechnung der schnellsten Route zwischen 85900 Städten. Informatiker interessieren sich aber für das Grundsätzliche: gibt es zu einem Problem überhaupt einen effizienten Algorithmus (d.h. mit polynomialer Laufzeit)? Noch grundsätzlicher: gibt es überhaupt Probleme, für die es keine effizienten Algorithmen gibt? Oder in Informatik-Deutsch: Ist NP größer als P oder ist P gleich NP?

Wohin geht die Reise?
Es gibt einige (berühmte) Sammlungen von mathematischen Problemen (z.B. die 23 Hilbertschen Probleme von 1900), auf deren Lösung z.Tl. Preise ausgesetzt wurden (z.B. je eine Million $ für die 7 Millenium-Probleme aus dem Jahr 2000 – nur die Poincaré-Vermutung ist davon mittlerweile bewiesen, im Jahre 2002 durch Perelman). In einigen Fällen kann man sich mit Gödels Unvollständigkeitssatz trösten, der zeigt, dass manche Frage nicht innerhalb der geltenden Axiome beantwortet werden kann. Interessant sind Stewarts Überlegungen, dass zukünftige Forschungsgebiete der Mathematik von neuen Anwendungsfeldern in Biologie, Finanzwesen bis hin zur Medienindustrie und Sport getrieben sein werden – Big Data lässt grüßen. Und er lässt es sich auch nicht nehmen, 12 ungelöste Probleme vorzustellen – falls Sie am Wochenende noch nichts vorhaben.

OriginalitätErkenntnis
VerständlichkeitSpaßfaktor
Ian Stewart: Die letzten Rätsel der Mathematik. Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2015, 521 Seiten.
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