GENE – die Architekten und Baumeister des Körpers
Gene steuern nicht nur, sie werden auch gesteuert – durch Signale, welche vom Gehirn ausgesandt werden, als Folge von zwischenmenschlichen Beziehungen, Umwelteinflüssen und individuellen Erfahrungen.“
Wem bei Genen grade noch die Mendelschen Regeln einfallen, dem eröffnet sich mit dem neu entstehenden Wissen über die flexible Wirkungsweise der Gene und ihre Steuerung durch Umwelteinflüsse und -reize ein neues spannendes Universum.
Um die Zusammenhänge wirklich würdigen zu können, ist allerdings ein Verständnis der biologischen Grundlagen notwendig, daher hier zusammengefasst:
- Die große Bedeutung kommt Genen zu, da sie die Baupläne für die Proteine (Eiweiße) tragen, eine Substanzgruppe, die als Enzyme, Hormone, Botenstoffe, Kollagene u.a. viele biochemische Abläufe im Körper regelt. Aus Proteinen bestehen z. B. Haut, Haare, Muskeln.
- Beim Menschen gibt es ungefähr 35.000 verschiedene Proteine, die jeweils verschiedene biochemische Spezialaufgaben im Körper erfüllen.
- Proteine werden im Körper durch eine Aneinanderreihung von Einzelbausteinen, sogenannten Aminosäuren, hergestellt; es stehen insgesamt 21 verschiedene Aminosäuren (die 20 seit langem bekannten, sowie Selenocystein) zur Verfügung; 8 davon sind essenziell, d.h. der Körper kann sie nicht selbst herstellen, sondern muss sie mit der Nahrung aufnehmen; die Länge eines Proteins (variierend von einigen Dutzend bis zu mehreren tausend Aminosäuren – das größte bekannte Protein ist das Muskelprotein Titin und besteht aus über 30.000 Aminosäuren.) und die typische Abfolge von Aminosäuren sind eindeutig festgelegt.
- Alle Baupläne für die Proteine sind in der Erbsubstanz enthalten: in jedem Zellkern liegt die DNS in Form eines (ca. 2m langen) verknäulten Fadens vor; dieser DNS-Faden besteht aus der Aneinanderreihung von 4 verschiedenen biochemischen Bausteine (Nukleotiden), die mit A, T, C, G abgekürzt werden. Insgesamt besteht die DNS-Sequenz aus ca. 3,9 Milliarden Nukleotiden. Diese DNS-Sequenz ist bei Menschen untereinander zu 99,9% identisch. Die Unterschiede beruhen auf ethnischen Unterschieden, Norm-Varianten oder echten, aber sehr seltenen Erbkrankheiten/Mutationen (d.h. ein Protein kann seine gewünschte Funktion nicht ausüben).
- 1961 entdeckten Watson und Crick, dass jeweils 3 nebeneinander liegende Nukleotide („Triplett“) eine Informationseinheit darstellen; es lassen sich damit 4x4x4 = 64 unterschiedliche Informationen codieren.
- Ein solches Triplett im DNS-Faden codiert beim Aufbau eines Proteins in der Zelle eine bestimmte Aminosäure, d.h. der DNS-Faden wird Triplett für Triplett (im Zellkern) abgelesen und das Protein aus Aminosäuren (in der Zelle, aber außerhalb des Zellkerns) aufgebaut; bestimmte Tripletts codieren dabei Start bzw. Ende des Aufbaus des Proteins.
- Ein Gen bezeichnet nun jeweils einen Teilabschnitt der DNS-Sequenz, der den Bauplan für ein bestimmtes Protein enthält, und besteht beim Menschen aus durchschnittlich etwa 3.000 Nukleotiden = 1.000 Tripletts. Das menschliche Genom enthält rund 20.300 Protein-codierende Gene – viel weniger als vor der Sequenzierung des Genoms angenommen.
- Da viele der Protein-codierenden Gene mehr als ein Protein produzieren, kommen im menschlichen Körper mehr als nur 20.300 verschiedene Proteine vor – die traditionelle Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese ist für höhere Organismen heute nicht mehr haltbar.
- In den verschiedenen Organen des Körpers werden jeweils nur bestimmte „Sortimente“ von Proteinen hergestellt; nur ein Teil der innerhalb einer Zelle „freigegebenen“ Gene ist permanent und ohne Schwankungen aktiv; ein großer, bedeutender Teil der Gene einer jeden Zelle wird in seiner Aktivität reguliert: vor dem eigentlichen Gen in der DNS-Sequenz liegen sogenannte „regulatorische Sequenzen“, die das zugehörige Gen aktivieren oder „abdrehen“. Die regulatorischen Sequenzen sind Anlagerungsplätze für bestimmte Substanzen („Transkriptionsfaktoren“), die aus der Zelle selbst, von außerhalb der Zelle oder aus der Umwelt kommen können. Viele Gene können unter dem Einfluss von mehreren regulatorischen Sequenzen und Transkriptionsfaktoren stehen, die Wechselwirkung miteinander eingehen können.
- Transkriptionsfaktoren können z.B. aus der Nahrung oder der Umwelt (z.B. UV-Licht) kommen; den größten Einfluss auf die Regulation von Genen haben nichtstoffliche Signale allerdings im Gehirn: mit den Nervenzellen der Sinne aufgenommene Signale werden permanent in biologische Signale umgewandelt und haben so massive Effekte auf die Bereitstellung von Transkriptionsfaktoren: So können z.B. seelische Erlebnisse sehr schnell Gene aktivieren oder abschalten und somit Einfluss auf die Produktion von Proteinen nehmen. Welche Gene durch einen Reiz beeinflusst werden, hängt davon ab, wie Großhirnrinde und limbisches System die Situationen bewerten (Panikorchester oder Ponyhof?): im Gefahrenfall können Alarmbotschaften, bei positiven Situationen können Wachstumsfaktoren produziert werden, die die Anzahl der Neuronen und ihre Vernetzung erhöhen.
Auf Basis dieser biologischen Grundlagen zeigt Bauer an einer Reihe von Beispielen, wie Umwelteinflüsse, Lebensstile und Stress zum An- oder Abschalten von Genen und diese Vorgänge über Kettenreaktionen letztlich zu Krankheiten führen. Entscheidend ist dabei die individuelle, oftmals unbewusste Bewertung einer Situation – die führende Rolle bei der Ausrufung eines Alarmzustands spielt dabei der Mandelkern (Amygdala), wo emotionale Vorerfahrungen gespeichert sind. Insbesondere werden die Netzwerke dieser Nervenzellen im Gehirn stabilisiert und verstärkt, wenn alarmierende Situationen gehäuft auftreten. Jede Nervenzelle im Gehirn ist über bis zu 10.000 Synapsen mit anderen Nervenzellen verbunden – viel benutzte Synapsen verstärken ihre Struktur, wenig benutzte können aufgelöst werden. Auch Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster aus dem Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen werden in Neuronen-Netzwerken gespeichert. So wird beispielsweise im „Gyrus cinguli“ im limbischen System das Selbstgefühl repräsentiert.
Anregende und abwechslungsreiche Umweltbedingungen aktivieren die Gene von Nervenwachstumsfaktoren – tröstlich für alle, die über den Wechsel der Jahreszeiten in mitteleuropäischen Breiten jammern: besser mal frieren und Regen ertragen als fehlende Synapsen und Botenstoffe im Hirn – Training und geistige Aktivität macht aus dem Trampelpfad im Gehirn einen Highway.
Use it or lose it!
Interessant ist auch der Zusammenhang zwischen emotionalen Problemen, Depression und Herzerkrankungen: immer größere Bedeutung erlangt die Analyse der Puls-Schwankungsbreite (Heart-Rate-Variability / HRV); eine Verminderung der HRV gehört zu den größten Risikofaktoren des Herztodes und es wurde erkannt, das seelischer Stress und Depression wesentliche Auslöser sind. D.h. auch hier werden zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen in weitreichende körperliche Veränderungen umgewandelt.
Bauer beleuchtet dann ausführlich die Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen Symptomen und zwischenmenschlichen Beziehungen der entscheidende Ansatzpunkt der Psychotherapie ist – interessant insbesondere, dass die Ergebnisse der Psychotherapie z.B. als Normalisierung des Gehirnstoffwechsels mit modernen bildgebenden Verfahren (z.B. PET, SPECT) sichtbar gemacht werden können.
Originalität | Erkenntnisgewinn | ||
Verständlichkeit | Spaßfaktor |
Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers. Piper Verlag. München 2004, 271 Seiten. |